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Robin Corminboeuf im Interview 26.11.25

«Ich hatte das Gefühl, der einzige Schwule auf der Welt zu sein»

Autor Robin Corminboeuf untergräbt den klischeehaften Stadt-Land-Graben. (Bild: Christiane Nill)

Westschweizer Bauernsohn, Absolvent einer Londoner Eliteuni, Autor eines preisgekrönten schwulen Romans: Robin Corminboeuf spricht mit network über Schreiben, Sichtbarkeit und den Stadt-Land-Graben.

Robin, was waren für dich als schwuler Jugendlicher auf dem Land die grössten Herausforderungen?
Vermutlich die fehlende Repräsentation. Nicht, dass das alle Probleme gelöst hätte, was die Selbstakzeptanz meiner sexuellen Orientierung betrifft: Auch heute ist die Welt trotz mehr Diversität in Medien und Kunst noch immer ziemlich LGBTIQ+-unfreundlich. Aber ich hatte wirklich das Gefühl, der einzige Schwule auf der Welt zu sein. Diese Einsamkeit war schwer zu ertragen. Trotz all ihrer Schwächen waren die sozialen Medien hier ein echter Wendepunkt: Dank ihnen erkennen Jugendliche heute, dass sie mit ihren Gefühlen nicht allein sind.

Wird der urbane Raum zwangsläufig der bevorzugte Lebensraum für queere Menschen bleiben?
Für mich ist dieser Stadt-Land-Gegensatz oft zu kurz gedacht – und genau das wollte ich auch mit meinem Roman «Un été à M.» anstossen. Durch die Veröffentlichung haben Landwirte aus meinem Heimatdorf einen schwulen Roman gelesen, während meine urbanen, eher linken, gebildeten Freunde aus der Stadt erstmals mit der Landwirtschaft konfrontiert wurden. Ich finde, das ist ein Dialog, der in der Romandie heute viel zu selten geführt wird – vielleicht mit Ausnahme von Blaise Hofmanns Buch «Faire paysan», das einem urbanen Publikum auf brillante Weise ländliche Realitäten näherbringt.

Hast du bei diesem diversen Lesepublikum spannende Reaktionen beobachtet?
Auf meiner Lesetour mit dem Literaturpreis «Le Roman des Romands» hatte ich im Wallis die offensten Gespräche mit Jugendlichen geführt – gerade dort, wo man eher mit Zurückhaltung gegenüber diesem Thema rechnen würde. Gleichzeitig habe ich in privilegierteren Schulen in Genf oder Lausanne manchmal ein deutlich kälteres Klima gespürt.

War die Niederschrift deines Romans auch ein Verarbeiten deiner Jugendzeit?
Für mich war Schreiben schon immer eine Art, Dinge zu verarbeiten – das begann in meiner Teenagerzeit. Mein Soziologiestudium war eigentlich eine Fortsetzung davon: Es ging immer darum, die Welt um mich herum zu verstehen.

Sich so zu «entblössen» mit einem autobiografischen Text kann bestimmt auch unangenehm sein, oder?
Die Geschichte basiert zwar auf realen Ereignissen, ist aber keine Autobiografie. Das gilt für alle Figuren: Der Vater ähnelt meinem eigenen Vater, aber er ist es nicht. Ich könnte niemanden – auch mich selbst nicht – in einem Buch «einsperren». Diese Distanz ist mir wichtig; auch wenn mein Vater stolz sagt, er sei der Held im Roman seines jüngsten Sohnes…

Welche Beziehung hast du heute zum Tabakanbau?
Gerade wird eine Kurzfilm-Adaption von «Un été à M.» fertiggestellt – Regie führen Margaux Fazio und Manon Stutz. Gedreht wurde im letzten August in der Broye, in meiner Heimatregion. Sie haben dafür die Trocknungshalle und die Felder meines Cousins genutzt, der dort noch heute Tabak anbaut. Die Tage am Set waren für mich eine emotionale und freudige Wiederbegegnung mit der Pflanze, ihren Farben und ihrem Geruch. Ich konnte diese Momente mit meiner Familie teilen, besonders mit meinem Vater. Dieser wurde zum «Agrarberater» des Films; er war sehr stolz, sein landwirtschaftliches Wissen weiterzugeben. Überhaupt hat sich das ganze Dorf, bis hin zu politischen Vertreter:innen, beteiligt. Das zeigt mir erneut, dass der Stadt-Land-Gegensatz komplexer ist, als er oft dargestellt wird.

Dreharbeiten zum Kurzfilm «Un été à M.» (Instagram/robin.corminboeuf)

Dürfen wir uns bald auf ein zweites Buch freuen?
Ich arbeite aktuell an einem Roman, in dem ich erneut queere Lebensrealitäten erkunde – diesmal allerdings in einem eher urbanen und zeitgenössischen Kontext. Hoffentlich kann ich bald mehr dazu erzählen!

Du bist aktuell auch als Kommunikationsverantwortlicher im Kulturbereich tätig. Du hast ganz unterschiedliche Ausbildungen abgeschlossen und Berufe ausgeübt. Erzähl bitte mal von deinem Werdegang.
Ich habe es nach dem Gymnasium zunächst mit einem Studium an der Uni Lausanne versucht, in einer persönlich schwierigen Zeit. Mein Coming-out verlief nicht gerade reibungslos. Dazu kam, dass ich der Erste in meiner Familie war, der studierte. Ich hatte keine Orientierung, keine Ahnung, wie das akademische System funktioniert. Ich bin deshalb in eine ganz andere Richtung gegangen, habe eine Lehre gemacht und einige Jahre als Innenarchitekt in der Schweiz und in London gearbeitet. Das war eine ziemlich glamouröse Zeit mit vielen Reisen in die USA und nach Paris für verschiedene Projekte.

Trotzdem hast du dich nochmals neu orientiert.
Irgendwann bekam ich genug von dieser Welt – auch wenn ich Design bis heute liebe.Schliesslich entschied ich mich, an die Uni zurückzukehren, und schloss mein Bachelorstudium in Lausanne ab. Für den Master wollte ich mich herausfordern und hatte die London School of Economics im Blick. In meiner Bewerbung stellte ich die LSE als eine Institution infrage, die der Reproduktion von Eliten dient, und argumentierte, dass ein Bauernsohn wie ich dort kaum eine Chance hätte. Ich bewarb mich für den Masterstudiengang in Soziologie. Ich wagte es einfach – und es hat geklappt!

Brillant: Mit soziologischer Systemkritik ins Soziologiestudium einer Eliteuni!
Als allerdings die Rechnung kam, wusste ich, dass ich mir das schlicht nicht leisten konnte. Ich war kurz davor, das Angebot abzusagen, erhielt dann aber glücklicherweise zwei Stipendien.Später kam ich zum queeren Magazin «360°», das Schreiben wurde ernsthafter – davon leben kann ich allerdings bis heute nicht.

Hast du jemals einen Karriereschritt bereut?
Insgesamt bin ich zufrieden mit meinen Entscheidungen, auch wenn mein untypischer Werdegang auf dem Arbeitsmarkt manchmal nicht so leicht zu vermitteln ist.

Mit welchen Gedanken blickst du auf die Zeit als Chefredaktor von 360° und auf die Einstellung der Printausgabe zurück?
Ich bin unglaublich stolz auf die Arbeit, die wir geleistet haben – gerade angesichts der begrenzten Mittel, die uns zur Verfügung standen. Aber natürlich empfinde ich auch Traurigkeit. Ich habe die monatlichen Rendezvous mit unserer Leserschaft geliebt.

Das Magazin gibt es zumindest noch online.
Und ich finde, sie machen einen tollen Job. Sie haben es geschafft, über soziale Medien ein jüngeres Publikum zu erreichen. Für mich ein echtes Beispiel einer gelungenen digitalen Transformation.

Ist ein queeres Printmedium für die Westschweiz heute noch denkbar? Trotz sinkendem Sponsoring für LGBTIQ+?
Ich würde gern glauben, dass es möglich ist, aber vermutlich nur mit einem weitgehend ehrenamtlichen Team. Ich glaube jedoch nicht, dass das Hauptproblem das Sponsoring ist.

Sondern?
Dass die grossen Tech-Unternehmen wie Google und Meta die Werbestrukturen verändert haben, indem sie die Werbeeinnahmen zentralisieren. Heute kann jede Organisation mit 50 Franken eine Instagram-Kampagne starten und ihre Zielgruppe direkt erreichen. Da kann Print schlicht nicht mithalten. Dazu kommt, dass die Kommunikationsbudgets öffentlicher Kulturinstitutionen versiegen – und die waren traditionell wichtige Unterstützer des Printjournalismus. Aufgrund von Sparmassnahmen stehen diesen Institutionen heute weniger Mittel zur Verfügung. In einer digitalisierten Welt ist es nachvollziehbar, dass Printwerbung keine Priorität mehr hat. Gedruckte Artikel über ihr Programm sind jedoch nach wie vor von grosser Bedeutung und werden ironischerweise oft als Erfolgsnachweis verwendet, wenn es um die Beantragung öffentlicher Fördermittel geht…

Wenn du eine Botschaft an schwule Jugendliche auf dem Land senden könntest, was würdest du ihnen sagen?
Ich denke, wir sind uns einig: Es ist nicht einfach, sich in dieser Welt zurechtzufinden. Erstens: Such dir deine Leute, deine Gemeinschaft – und halte dich an sie. Sie werden deine kostbarste Ressource sein. Zweitens, um die grossartige Nina Simone zu zitieren: «Du musst lernen, den Tisch zu verlassen, wenn keine Liebe mehr serviert wird.» Es geht um Selbstachtung. Und schliesslich solltest du wissen: «Es wird besser.» Geduld, Zeit und Offenheit können Wunder wirken.

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