Ende Juli fand das 18. network-Wochenende in Ernen statt. Organisator Francesco Walter blickt auf die Geschichte von «Queerlesen» zurück und sagt, weshalb es weiterhin queere Sichtbarkeit braucht.
Mit der Matterhorn-Gotthard-Bahn bis nach Fiesch und von dort mit dem Postauto – Ernen im Walliser Bezirk Goms liegt so idyllisch, wie es die direkteste ÖV-Route vermuten lässt. Jeden Sommer wird die Gemeinde zum «Musikdorf» und damit während sechs Wochen zur Bühne für musikalische und literarische Veranstaltungen. Die Reihe «Queerlesen» im Rahmen des Kulturfestivals besitzt seit Langem den Status eines network-Traditionsanlasses. Sie lockte auch dieses Jahr wieder 17 Gäste ins obere Rhonetal.
Schwein mit dem Wetter
Das lange Wochenende vom 26. bis 29. Juli beinhaltete unter anderem ein exklusives Jazzkonzert, eine Wanderung bei idealen Bedingungen sowie drei Lesungen von queeren Autor:innen: Lion Christ, Angela Steidele und Stephan Lohse. Durch die Veranstaltungen führte wie immer Bettina Böttinger. (Die deutsche TV-Moderatorin wird übrigens auch das Club Dinner vom 15. November mit Alain Claude Sulzer in Basel moderieren.)
«Wir hatten wirklich Schwein mit dem Wetter», sagt der Organisator des network-Wochenendes und Co-Intendant des Festivals Francesco Walter. «Sowohl das erste Nachtessen als auch den Raclette-Plausch am Sonntag mit den Autor:innen und Bettina Böttinger konnten wir im Freien geniessen.»
Die Networker würden das vielseitige Programm sehr schätzen, sagt Francesco. «Viele haben bereits fürs nächste Jahr wieder gebucht!» 2025 findet das network-Weekend in Ernen dann vom 18. bis 21. Juli statt.
Das zweite E
Es war der ungarische Pianist und Musikpädagoge György Sebők, der Mitte der 70er-Jahre den Grundstein für das Festival in seiner heutigen Form gelegt hat und es bis zu seinem Tod 1999 prägte. An der darauffolgenden Neuausrichtung war Francesco als neuer Intendant federführend beteiligt.
Unter seiner Ägide erweiterte sich das kulturelle Spektrum in Ernen. Und er wagte 2008 mit seinem Team etwas, das es damals in der Schweiz noch nicht gab: eine LGBTI-Lesereihe namens «Querlesen» – wohlgemerkt damals noch mit bloss einem «E».
Die Organisator:innen versteckten den queeren Aspekt anfangs noch; er könnte ja womöglich einen Teil des Hetero-Publikums abschrecken. Erst als das Radio SRF von einem Anlass berichtete, der sich auf «Literatur von schwulen und lesbischen Autorinnen und Autoren fokussiert», wurde aus «quer» endlich «queer». Die Lesung erlebte quasi ihr Coming-out.
Mehr Happy Ends
Francesco ist aufgefallen, dass die queere Literatur in den vergangenen Jahrzehnten eine Veränderung erfahren hat – und das betrifft nicht nur ihre zunehmende Mainstreamtauglichkeit. «Mit trans und nicht-binären Figuren sowie der Gleichzeitigkeit verschiedener Formen der Diskriminierung sind vermehrt neue Aspekte eingeflossen.»
Zudem gebe es mittlerweile endlich mehr schwule Bücher mit glücklichem Ausgang. Endeten homosexuelle Geschichten für den Protagonisten früher häufig mit dem Tod oder dem Zwang zur Heteronormativität, würden gerade queere Jugendliche heute auch mal kitschige Wohlfühl-Stories in den Bücherregalen finden.
«Ein normales Paar»
Francesco ist nicht nur Co-Intendant des Musikdorfs, sondern auch seit über drei Jahren Gemeindepräsident von Ernen mit der Ambition zur Wiederwahl. Festivalleiter und schwuler Politiker der christdemokratischen «Mitte Oberwallis» – auf Francesco sind gleich mehrere Scheinwerfer gerichtet. Erfährt er dabei manchmal Anfeindungen?
Seine Homosexualität sei schon lange bekannt und bisher nie ein Problem gewesen. «Mein Partner und ich wollen der Bevölkerung mit unserer Offenheit zeigen, dass wir ein ganz normales Paar sind.»
Toleranz-Dislikes
Das könnte jetzt das Happy End einer queeren Geschichte aus dem Wallis sein – es gibt aber noch einen Epilog. Francesco las kurz vor dem network-Weekend im Walliser Boten einen wohlwollenden Bericht über die Pride in Martigny. Darunter waren zahlreiche LGBTI-feindliche Kommentare von Leser:innen, die sich abfällig über die Sichtbarkeit queerer Menschen beschwerten.
Francesco schrieb dann selber in einem Kommentar, dass die zunehmende Toleranz erfreulich sei, jedoch weiterhin Vorurteile und Diskriminierung bestünden, die überwunden werden müssten. Dieser Beitrag bekam sehr viel mehr «Dislikes» als «Likes».
«Das zeigt, dass noch nicht alles ist, wie es sein sollte», sagt Francesco nachdenklich. «Es braucht weiterhin Menschen, die sich exponieren, die hinstehen und sagen, dass solche Äusserungen nicht akzeptabel sind!»