Die CVP-Initiative zur Abschaffung der Heiratsstrafe wurde 2016 knapp abgelehnt. Der Jubel bei den LGBTIQ-Verbänden war gross, denn damit fand die Definition der Ehe als Verbindung von Mann und Frau keinen Einzug in die Bundesverfassung. Nun droht, dass die Abstimmung wiederholt werden muss.
Manch ein engagierter Networker dürfte seinen Ohren nicht getraut haben, als die CVP Mitte Juni in mehreren Kantonen eine Abstimmungsbeschwerde einreichte. 2016 wurde nämlich die CVP-Initiative «Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe» äusserst knapp – mit 50,8 % Nein-Stimmen – verworfen. Die CVP begründet die Beschwerde mit «skandalösen Fehlinformationen» über die Zahl der von der Heiratsstrafe betroffenen Ehepaare. Sie ist der Ansicht, dass mit korrekten Informationen neben dem (erreichten) Stände- auch ein Volksmehr zustande gekommen wäre. Tatsächlich sind laut neuen Informationen des Eidgenössischen Finanzdepartements 454‘000 Ehepaare von der Heiratsstrafe betroffen, und nicht nur 80‘000, wie damals bekannt gegeben.
Zur Erinnerung: Diese Initiative wurde von Network und anderen LGBTIQ-Verbänden nicht wegen der Heiratsstrafe an sich, sondern wegen der Definition von Ehe als «Verbindung von Mann und Frau» vehement bekämpft.
Hans-Peter Fricker von der Politischen Kommission (PoKo) sagt zum Stand der Dinge: «Da es sich um eine nationale Abstimmung handelte, erklärten sich die angegangenen Kantone als nicht zuständig. Deshalb gelangte die CVP an das Bundesgericht. Dort ist die Beschwerde zurzeit hängig.» Hans-Peter rechnet während des nächsten halben Jahres mit einem bundesrichterlichen Entscheid. Wenn das Bundesgericht der Ansicht ist, dass das knappe Resultat aufgrund von Fehlinformationen zustande gekommen ist, dann werde die Abstimmung wiederholt, sagt er. «Und zwar wird dann nochmals über die identische Vorlage abgestimmt.» Es sei nämlich nicht möglich, bei einer erneuten Abstimmung zum Beispiel die allseits kritisierte heterosexistische Definition von Ehe abzuändern.
Hans-Peter möchte den Teufel nicht an die Wand malen, doch sollte es zu einer erneuten Abstimmung kommen, könnten die LGBTIQ-Verbände nicht auf eine automatische erneute Ablehnung hoffen. Er meint: «Die Situation ist nicht mehr die gleiche wie anfangs 2016, als man argumentieren konnte, die Heiratsstrafe betreffe ja wesentlich weniger Leute als das Verbot von gleichgeschlechtlichen Ehen, das sie mit sich bringen würde.»
Und falls die Initiative im zweiten Anlauf angenommen würde? «Das würde einen um ein Vielfaches grösseren Effort für uns bedeuten, doch noch zur «Ehe für alle» zu kommen», erklärt Hans-Peter. Denn dann müssten wir unsererseits eine Änderung der Bundesverfassung anstreben, um die – eben beschlossene – diskriminierende Ehedefinition wieder abzuschaffen. Gute Neuigkeiten gibt es bezüglich «Ehe für alle» trotzdem: Die Rechtskommission des Nationalrats hat am 6. Juli bekannt gegeben, dass sie mit 14 zu 11 Stimmen beschlossen hat, die Bundesverwaltung mit der Ausarbeitung einer konkreten Vorlage zur Einführung der «Ehe für alle» auf Gesetzesstufe zu beauftragen. «Hoffen wir, dass die CVP und das Bundesgericht uns nicht einen grossen, dicken Strich durch diese positive Rechnung machen werden», fasst Hans-Peter zusammen.
Text: Michel Bossart