Wenn Michael Rauchenstein arbeitet, schauen Hunderttausende zu. Der 34-jährige Tagesschau-Moderator spricht über network, seine Karriere und sein öffentliches Coming-out, das eigentlich gar keins war.
Michael, vor einem Jahr hast du das ausverkaufte Club Dinner mit dem ehemaligen deutschen Gesundheitsminister Jens Spahn moderiert.
Das war ein toller Abend. Ich erinnere mich an viele gute Unterhaltungen – vor allem die bunte Mischung und die vielfältigen Hintergründe der Gäste haben mich fasziniert.
Und der Ehrengast aus Deutschland faszinierte dich auch?
Sehr. Ich verfolge seit Längerem Spahns Karriere, die doch ziemlich aussergewöhnlich ist: Ein schwuler Politiker, der es ausgerechnet in der CDU zum Gesundheitsminister geschafft hat. Und seine Homosexualität war in Deutschland eigentlich gar nie ein Thema. Als politischer Journalist, der drei Jahre in Berlin gelebt hat, konnte ich mich natürlich für diese Gelegenheit begeistern.
Bei so viel Begeisterung könntest du doch jetzt auch Networker werden!
Vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt, aktuell fehlt mir die Kapazität dafür. Ich bin aber sehr gerne ab und an als Gast dabei, wie beim vergangenen Club Dinner mit Curdin Orlik und Marco Lehmann.
War das Club Dinner mit Jens Spahn dein erster Kontakt mit dem Verein?
Ja, ich hörte damals zum ersten Mal von network. Ich muss allerdings zu meiner Verteidigung erwähnen, dass ich lange im Ausland gelebt und mich wenig mit der queeren Vereinslandschaft der Schweiz auseinandergesetzt habe.
Du hast in Berlin Politikwissenschaften sowie Soziologie studiert, und warst dann 2020 bis 2022 fürs SRF als EU-Korrespondent im Einsatz – also genau während der schlimmsten Corona-Zeit.
Das ist auch der Grund, weshalb ich gar nie richtig in Belgien angekommen war, nie richtig in die dortige Kultur eintauchen konnte. Dazu kam, dass die Parlamentarier:innen, die man sonst an Events treffen konnte, während der Pandemie nur schwer erreichbar waren.
Wird man als Schweizer Journalist in Brüssel etwas stiefmütterlich behandelt?
Es ist tatsächlich so, dass die meisten Abgeordneten kein grosses Interesse an Interviews mit Schweizer Medien haben, da sie sich nichts davon versprechen. Mit anderen Worten: Sie erreichen damit ihre Wählerschaft nicht. Die Politiker:innen aus Deutschland sind noch am zugänglichsten – nicht zuletzt, weil sie via «10 vor 10» auf 3sat ausgestrahlt werden könnten.
Ist Korruption in Brüssel ein Thema?
Es wird sehr intensive Lobbyarbeit betrieben, aber innerhalb des gesetzlichen Rahmens; ich würde das nicht mit Korruption in Verbindung bringen. Lobbyieren gehört zum politischen Spiel, das ist an sich nichts Negatives.
Wie hat dich die Zeit als EU-Korrespondent beruflich weitergebracht?
Die Arbeit dort war das Sprungbrett für meinen Job als Tagesschau-Moderator. Ich konnte zeigen, was ich journalistisch draufhabe. Und ich war dadurch in den Sendungen bereits präsent: Corona, das EU-Rahmenabkommen, der Krieg in der Ukraine – die Zuschauer:innen waren mit meinem Gesicht vertraut.
Und du hattest keine Angst vor den grossen Fussstapfen von Franz Fischlin.
Nein, vielmehr war es für mich eine Ehre, dass ich seine Nachfolge antreten durfte. Und dass ich sein persönlicher Favorit für diesen Posten war, wie er später verriet.
Wie ist es dir gelungen, so früh in deinem Leben so viel zu erreichen? Du hast mal gesagt, du seist ein Streber gewesen, aber das kann ja nicht alles sein…
Ich wusste schon in der Primarschule, dass ich zum Fernsehen will. Und spätestens im Gymnasium habe ich dann alles auf dieses Ziel ausgerichtet. Ich durfte als Teenager für die Jugendsendung «Video Gang» arbeiten und dabei viel lernen. Mit 19 fing ich als Morgenshow-Moderator von Radio Top an, zwei Jahre später als Videojournalist und Moderator beim Zentralschweizer Fernsehen. Weil ich früh begonnen habe, bin ich auch entsprechend früh bei meinem Traumjob gelandet.
Zwei Monate nach deinem Debüt als Tagesschau-Moderator im August 2022 hast du in einem Interview mit der Schweizer Illustrierten dein öffentliches Coming-out gewagt.
Es fühlte sich eigentlich nicht wie ein Coming-out an, weil ich schon seit vielen Jahren offen schwul lebe.
War es eine spontane Aktion oder wolltest du das bewusst zu diesem Zeitpunkt der Öffentlichkeit mitteilen?
Es war spontan, nicht geplant. Die Journalistin ahnte wohl schon etwas, als sie in meiner Wohnung das Mannschaft Magazin entdeckte. Sie fragte dann nach meinem Privatleben und ich sagte, dass ich schwul sei. Sie schrieb zuerst sowas wie «Ich bin schwul und stehe dazu», das wollte ich nicht. Es war mir wichtig, dass es keine Headline wird, sondern mehr so nebenbei Erwähnung findet. Aber ich spreche gerne darüber und gebe Auskunft, wenn jemand Interesse hat. Das finde ich wichtig.
Mario Grossniklaus, ein Networker und SRF-Kollege von dir, sagte in einem Interview mit uns: «Ein Schwuler im Fernsehen ist kein Grund zur Aufregung mehr.»
Das kann ich so unterschreiben. Ich habe nie beruflich Diskriminierung erlebt, beim SRF sowieso nicht. Und in den EU-Institutionen herrscht ebenfalls ein äusserst LGBTI-freundliches Klima. Bei der Tagesschau wird man zum Glück ohnehin an anderen Dingen gemessen: Ich muss die Nachrichten gut und verständlich präsentieren; die Zuschauer:innen müssen sich wohlfühlen, wenn sie mich in ihr Wohnzimmer lassen.
Dein Bart ist ja das brisantere Thema als deine Sexualität.
Mittlerweile ist auch das vorbei! Diese mediale Bart-Diskussion hat mich nicht gestört, aber ich finde bei solchen Dingen immer, dass es eigentlich Wichtigeres zu berichten gäbe…
Du hast mal gesagt, du wärst eitel.
Wenn einem etwa 700’000 Leute zuschauen, will man halt eine gute Gattung machen, das ist doch ganz normal.
Du lagst letztes Jahr auf Platz 29 im Ranking «Die 50 Schönsten» der Glückspost. 2022 warst du noch einen Platz besser. Beunruhigt dich das?
Sehr! (lacht)
Vielleicht musst du doch mal was an deinem Bart ändern.
Oder meine Fingernägel lackieren. Blau wäre schön. (lacht)
Das könnte vielleicht deine Zuschauer:innen etwas irritieren: Deren Durchschnittsalter liegt laut Medienberichten bei 63 Jahren. Erreicht die Tagesschau die Jungen nicht mehr?
Natürlich hat sich die Art, wie man Nachrichten konsumiert, verändert. Darum ist es wichtig, dass das Schweizer Fernsehen seine erfolgreiche Onlinestrategie weiterverfolgt. Ich werde allerdings oft auf der Strasse von Menschen unter dreissig erkannt und angesprochen, was mir zeigt, dass wir von dieser Generation durchaus noch gesehen werden. Solange die Tagesschau eine so starke Marke bleibt und sehr hohe Einschaltquoten erreicht, mache ich mir da keine Sorgen.